Selbstbestimmt in den Tod?

An einer kahlen Wand hängt ein Rettungsring, daneben hängt ein kleines Verbotsschild "No diving" (nicht tauchen).

Foto: Matthew Waring / unsplash.com

Wer einen stabilen und selbstbestimmten Sterbewunsch hat, hat das Recht, Unterstützung zur Selbsttötung zu erhalten. So hat das Bundesverfassungsgericht im Februar 2020 geurteilt. Aktuell arbeitet der Deutsche Bundestag daran, zu diesem Grundsatzurteil neue Gesetze zu erlassen. So ist z.B. das Strafrecht betroffen, aber auch das Betäubungsmittelgesetz – denn die meisten Menschen, die sich einen sogenannten „assistierten Suizid“ wünschen, möchten dies mit todbringenden Medikamenten tun.

„Selbstbestimmt sterben“ klingt gut und einleuchtend. Und wir alle haben sicherlich Schicksale vor Augen von Menschen, die sich zum Tode hin quälen und denen man wünschen würde, dass ihr Sterben abgekürzt werden kann. Das höchste deutsche Gericht hat aber nicht nur für Sterbenskranke den Zugang zu tödlichen Medikamenten gefordert – sondern für alle Menschen, gleich wie alt oder jung, krank oder gesund sie sind. Sobald sie einen stabilen und selbstbestimmten Sterbewunsch haben, darf ihnen der Zugang zur Suizidassistenz nicht verwehrt werden. Und da fangen die Probleme an, nicht nur für den Gesetzgeber. Was eine „zum Tode führende Krankheit“ ist, das kann noch relativ leicht definiert werden. Aber was ist ein „stabiler Sterbewunsch“, wann ist er wirklich „selbstbestimmt“ – und wie kann das zweifelsfrei festgestellt werden?

Stabil oder vorübergehend?

Ob ein Sterbewunsch „stabil“ ist, kann über die Zeitschiene ermittelt werden: Hält der Sterbewunsch lange an, ist er stabil. Doch wie lange ist „lange“? Manche schlagen vor: 10 Tage. Aber in einer akuten Depression sind zehn Tage nichts. Auch nicht in einer Lebenskrise, etwa nach einer Trennung oder bei einer nicht-bestandenen Prüfung. Nahezu alle Menschen haben im Laufe ihres Lebens einmal Suizidgedanken, die sich nach einer Weile wieder verflüchtigen. Wenn aber in einer solch kritischen Lebensphase der Zugang zu tödlichen Medikamenten schon nach so kurzer Zeit möglich wäre: Wir hätten sehr viele Selbsttötungen, die zu verhindern gewesen wären, wenn man der Seele einfach mehr Zeit gelassen hätte.

Selbstbestimmt, fremdbestimmt, Sorge-getrieben

Noch schwieriger ist die Frage nach dem „selbstbestimmten“ Sterbewunsch. Niemand weiß wirklich, wie das sicher festgestellt werden kann. Die Psychologie hat dazu keine bewährten Tests parat. Und zudem ist doch klar: Niemand handelt zu 100 Prozent selbstbestimmt, in keiner entscheidenden Frage des Lebens. Wir sind z.B. alle mitbestimmt durch unsere Familiengeschichte. Das gilt sogar für Selbsttötungen, denn die Hälfte derer, die sich das Leben nehmen, hat schon ein Elternteil durch Suizid verloren. Rund 90 Prozent aller Suizide hängen mit Depressionen und Schizophrenie zusammen, sind also krankheits- und nicht selbstbestimmt. Nicht zu vergessen der so genannte „Werther-Effekt“: Suizide ziehen andere nach sich. Deshalb wird in der Presse normalerweise nicht über Selbsttötungen berichtet. Nur bei Prominenten, wie dem Nationaltorhüter Robert Enke – und dann schnellt die Zahl der Selbsttötungen regelmäßig nach oben. Suizid ist also ansteckend. Was ist dann daran selbstbestimmt?!

Er ist wohl auch gender- oder armutsbestimmt, das zeigt sich in einigen Ländern, die den assistierten Suizid seit längerem erlauben: In der Schweiz und in Oregon nehmen vor allem Frauen diese Todesform wahr – und in Kanada vermehrt Wohnsitzlose.

Nicht zu vergessen die Menschen, die im Alter niemandem zu Last fallen wollen. Sie werden zwar von ihren Familien nicht offen unter Druck gesetzt, aber sie spüren doch: Meine Pflege wird alle belasten und das Erbe verringern. Wenn sie in dieser Lage über assistierten Suizid nachdenken, ist das vielleicht selbstbestimmt, aber ebenso Sorge-getrieben. Bräuchten sie von ihrer Familie da nicht etwas ganz anderes als Beihilfe zur Selbsttötung, nämlich den Zuspruch: Du bist und bleibst ein Segen für uns?

Nicht ohne Schutzkonzepte!

Es ist also nicht leicht, zweifelsfrei festzustellen, ob ein Sterbewunsch stabil und selbstbestimmt ist. Doch es muss „zweifelsfrei“ sein, denn es geht um Menschenleben! Das Thema ist wirklich kompliziert, und deshalb ist es kein Wunder, dass der Deutsche Bundestag so lange braucht, um ein gutes Gesetz auf den Weg zu bringen. Es muss einfach sehr, sehr viel sehr sorgfältig durchdacht werden. Und es braucht tragfähige Schutzkonzepte, um Menschen vor vorschneller Selbsttötung zu bewahren.

Wir dürfen das Thema auch nicht nur vom Hospiz her bedenken, sondern ebenso von Jugendlichen und jungen Erwachsenen her. Sie sind – nach den Älteren – schon heute die zweitgrößte Gruppe, die von Suizid betroffen ist. Wollen wir wirklich, dass künftig 18-jährige nach einigen Wochen Wartezeit ein tödliches Medikament erhalten können, aber auf den Termin in einer psychologischen Praxis über ein halbes Jahr warten müssen?

Selbstbestimmt und verantwortlich

Nach christlicher Überzeugung ist der Mensch selbstbestimmt, aber nicht nur! In all seiner Eigenständigkeit ist er auch verantwortlich: Sich selbst gegenüber mit Urteilsfähigkeit und Freiheit. Dem Mitmenschen gegenüber als Mit-Geschöpf. Und Gott gegenüber als dem, der das Leben gab. Klassisch ist diese Dreifach-Beziehung im sogenannten „Doppelgebot der Liebe“ ausgedrückt, das richtigerweise „Dreifachgebot“ heißen müsste: „Du sollst Gott lieben – und deinen Nächsten – wie dich selbst.“ (5. Mose 6,4-5; 3. Mose 19,18; Markus 12,29-31).

Wir haben für uns selbst und eben auch für andere die Verantwortung. Darum ist immer die Frage zu stellen: Was bedeutet mein Handeln für die anderen Menschen? Hier konkret: Hätte mein Suizid, den ich nicht als Kurzschlusshandlung, sondern stabil und selbstbestimmt und sorgsam geplant begehe, Folgen für andere? Habe ich sie sorgsam genug durchdacht, und kann ich sie wirklich verantworten?

Illusionen und Alternativen

Ganz gleich, wie das neue Gesetz am Ende aussehen wird, ein Wunsch wird leider nicht in Erfüllung gehen: Dass die Zahl der sogenannten „harten“ Suizide zurückgeht – dass sich also weniger Menschen vor den Zug werfen oder auf andere gewaltsame und grausame Weise töten werden – was ja nicht nur die Angehörigen, sondern auch Lokführer und andere extrem belastet. Aber die Länder, die Suizidbeihilfe schon länger erlauben, erleben: Die „harten“ Selbsttötungen verhindert das nicht. Deren Zahl bleibt gleich, und die assistierten Suizide kommen hinzu.

Assistierter Suizid bei stabilem, selbstbestimmtem Sterbewunsch: Je länger ich darüber nachdenke, desto mehr Zweifel kommen mir. Die „Risiken und Nebenwirkungen“ dürfen wir nicht kleinreden. Und wir müssen uns intensiv darum kümmern, wie unsere Gesellschaft ältere Menschen besser stärken, Schmerzen schneller lindern, psychisch Erkrankte verlässlicher begleiten und für Lebenskrisen mehr leicht-erreichbare Hilfeangebote bereitstellen kann.

Annegret Puttkammer ist Pfarrerin und Theologische Vorständin des Neukirchener Erziehungsvereins. Dort leben Kinder, Jugendliche, Senior*innnen sowie Menschen mit Behinderungen. Viele von ihnen sind suizidgefährdet. In ihrem Buch „Ich lass dich nicht allein – Würde bis zum Schluss auch ohne assistierten Suizid“ stellt sie das Thema auf sehr verständliche Weise dar. Das Buch erscheint 2023 kurz nach der Entscheidung des Deutschen Bundestags.

Sollten Sie über Selbsttötung nachdenken oder nach der Lektüre dieses Blogs Hilfe brauchen, wenden Sie sich bitte an die Telefonseelsorge 0800 – 111 0 111 oder per Chat unter: www.telefonseelsorge.de/telefon

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