Foto: Ben R.
Engagement für Gerechtigkeit braucht Kraft. Nicht nur physische, wenn es darum geht, Stühle für eine Veranstaltung zu schleppen. Es braucht Kraft, sich Menschen in den Weg zu stellen oder auch einfach auszuhalten, was man an Informationen über die Welt und ihre Menschen so tagtäglich zu verarbeiten hat. Es braucht Kraft, sich mit anders Denkenden auseinanderzusetzen und Kraft, die Hoffnung am Ende des Tages nicht zu verlieren.
Kennst Du diese kitschigen Postkarten mit Bibelversen darauf? Sie sollen uns Hoffnung geben. Manche Bibelverse finden sich eher selten auf ihnen. Ich habe noch nie eine Postkarte gefunden, auf der stand: „Meine Rache an Edom lege ich in die Hände meines Volkes Israel. Sie werden mit Edom verfahren, wie es meinem Zorn und meiner Wut entspricht. Die Edomiter werden meine Rache kennenlernen! – So lautet der Ausspruch von Gott, dem Herrn.“ (Hesekiel 15,17 Basisbibel) Dieser Bibelvers ist nicht durch Postkarten, sondern durch den Film Pulp Fiction bekannt geworden.
Ein Vers, der mir dagegen sehr häufig auf Postkarten begegnet, steht bei Jes 40,29: „Er gibt dem Müden neue Kraft und macht den Schwachen wieder stark.“ Ich weiß aber eigentlich nicht so wirklich, was dieser Vers allein mir sagen soll. So im Indikativ ist er ja kaum hinterfragbar. Mehr noch wird hier ein hebräisches rhetorisches Mittel verwendet, das die Aussage besonders betont: Zwei Mal hintereinander wird das Gleiche, nur mit anderen Worten gesagt. Dabei erleben aber bei weitem nicht alle, die den Propheten Jesaja lesen oder an Gott glauben, dass sie Kraft von Gott erhalten, wenn sie müde sind. Auch Gläubige haben Post-Covid, Depressionen, Erschöpfungssyndrom, eine verzweifelnde Müdigkeit über diese Welt, sie fühlen Hilflosigkeit oder haben einfach manchmal zu wenig geschlafen. So weit, so müde.
Eine Freundin mit irgendeinem Erschöpfungssyndrom, das nie richtig diagnostiziert wurde, meinte einmal, dass sie das als Versprechen verstehe, das sich eben irgendwann einmal erfüllt. Dann betete sie noch, dass Gott das eventuell doch bald erledigen solle, lebte weiter fröhlich ihren Glauben und grenzte ihr Engagement entsprechend ihrer Möglichkeiten ein. Bis heute bewundere ich diese Freundin für ihre Genügsamkeit und Klarheit, was die Grenzen angeht, die sie zieht, weil ihr Körper nicht mehr möglich macht.
Also schaue ich mir das Umfeld des Bibelverses an. Das ist nämlich das Problem bei den Postkarten. Die Verse darauf sind meist aus dem Kontext gerissen. Das ist meist nicht so schlimm, aber wenn ich tiefer schürfen möchte, lohnt es sich, die Bibel aufzuschlagen, bzw. die App aufzurufen.
Jesaja 40 ist für das Volk Israel geschrieben zu einer Zeit, in der es ihnen gar nicht gut ging. Sie lebten in Gefangenschaft. Sicher ist der eine oder die andere manchmal verzweifelt, wenn sie über ihre Zukunft nachdachten. Sicher kam auch mal die Frage auf, wo denn nun Gott sei und ob es Gott überhaupt gäbe. Waren nicht vielleicht die Götter Babylons, die sie gefangen genommen hatten, viel cooler als ihr eigener Gott? Babylon betete Sonne, Mond und Sterne als ihre Götter an. Deren Kraft war tags und nachts deutlich zu sehen. Nachdem Gott seinen Leuten erst einmal Trost zuspricht und sie auffordert, sich gegenseitig zu trösten, verteidigt er seine Position. Natürlich ist er ihr Gott und natürlich ist er der Coolere: Er hat nämlich das geschaffen, was die Babylonier als ihre Götter bezeichnen – Sonne, Mond und Sterne.
Und er, dieser Schöpfer wird nicht müde oder matt. Weil Gott fit ist, bin ich fit. Wenn meine Kraft etwas mit Gottes Kraft zu tun hat, lohnt es sich, diese Kraft genauer anzuschauen. Spätestens im Neuen Testament wird es da vielschichtiger. Gott stellt sich den Menschen näher vor, als das jemals zuvor passiert ist: Er wird selbst Mensch. Ein hilfloses kleines Baby in der Krippe, wie wir es Jahr für Jahr an Weihnachten zu verstehen versuchen. Dieser Mensch ist kein Superhelden-Mensch mit besonderen Superkräften – abgesehen von einigen Wundern. Er braucht Schlaf und Essen, wie alle anderen auch. Jesus benimmt sich oft sehr ähnlich, wie meine Freundin. Er zieht Grenzen, zieht sich zurück, sucht Kraftquellen, die ihm helfen, weiterzumachen. Manchmal geht er auch über seine Kraft, wenn die Situation es erfordert, aber nie, ohne bei Gott wieder anzudocken. Wenn Du Dich jetzt fragst, wie Jesus Gott selbst sein konnte und trotzdem immer wieder mit Gott Verbindung gesucht hat: Ja, das ist etwas komplex. Christen versuchen das mit der Trinitätslehre zu beschreiben. Jesus ist Gott, aber Gott ist auch der Vater – und der Heilige Geist. Die drei sind so sehr miteinander in Beziehung, dass sie eben Gott sind. So schwer das zu verstehen ist, so unglaublich schön beschreibt es diese tiefe Abhängigkeit voneinander, woraus Jesus eben auch seine Kraft zieht.
Am Ende seines Lebens spitzt sich die Situation noch einmal zu und Jesus, also Gott, durchlebt die absolute Hilf- und Kraftlosigkeit. Er ist denen ausgeliefert, die ihn Foltern und erbärmlichst hinrichten. Am Kreuz hat Jesus nichts mehr. Keine Kraft, keine Macht, keine Hilfe. Und so geschieht, was wieder kaum erklärbar ist: Jesus (also Gott) bezeichnet sich als von Gott verlassen. Er betet Psalm 22: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ (Mk 15,34b). Diesen Moment völliger Schwäche hat es gebraucht, um den Tod zu besiegen. Nach unendlichen langen drei Tagen finden die Jünger:innen das leere Grab und begegnen dem auferstandenen Jesus. Was ist kraftvoller, als den Tod zu überwinden? Damit meine ich nicht, dem Tod nochmal von der Schippe zu springen, um einige Jahre später doch zu sterben, sondern wirklich den Tod hinter sich zu lassen.
Das haben wir im Hinterkopf, wenn wir uns eine weitere Bibelstelle anschauen. Paulus schreibt den Korinthern, was ihm Gott gesagt hat: „Du brauchst nicht mehr als meine Gnade. Denn meine Kraft kommt gerade in der Schwäche voll zur Geltung.“ (2. Kor 12,9a). Das ist also die Kraft, die uns vom Propheten Jesaja versprochen wird? Kraft, die wir erst in der Schwäche finden. Ja, tatsächlich fallen mir Beispiele ein, wo die eigentliche Stärke ist, schwach zu sein. In einer Welt, in der es um Selbstdarstellung geht, braucht es Mut und Kraft, unperfekt und schwach zu sein. #mehrrealitätaufinstagram ist der klägliche Versuch, dies zu erwirken. Aber die Bibel erzählt Geschichten voller Realität. Der große König David scheitert an seinem sexuellen Verlangen. Mose erhebt sich über Gott. Den Retter sollen die Sterndeuter nicht im Königspalast suchen, sondern im Stall. Die berufenen Nachfolger Jesu sind einfach Fischer. Viele unserer liebsten Erzählungen unserer Zeit nehmen diesen Gedanken auf. Die Protagonisten sind Unwichtige, Waisenkinder, die Schwachen unserer Zeit: Harry Potter, Frodo Beutlin, Luke Skywalker.
Etwas weiter vorne im 2. Korintherbrief spricht Paulus von Gottes Herrlichkeit. Auch hier dreht er die Begriffe um. Er sucht nach Gottes Herrlichkeit in unserem Leben. Dabei nutzt er ein Bild und spricht von irdenen Gefäßen. Das sind wir. Dreckige, unansehnliche, vermutlich auch an manchen Stellen zerbrochene Tontöpfe. Alles kann sich darin verstecken. Schätze oder Fäkalien. Gottes Kraft oder zerstörerische Mächte. Auferstehung oder Tod. Aber gerade, weil wir nach außen nichts Besonderes sind, finden wir in uns manchmal unerwartete Gaben und Möglichkeiten: „Wir tragen diesen Schatz aber in zerbrechlichen Gefäßen. So soll deutlich werden, dass unsere übergroße Kraft von Gott kommt und nicht aus uns selbst. Wir stehen von allen Seiten unter Druck, aber wir werden nicht erdrückt. Wir sind ratlos, aber wir verzweifeln nicht. Wir werden verfolgt, aber wir sind nicht im Stich gelassen. Wir werden zu Boden geworfen, aber wir gehen nicht zugrunde. Täglich erleben wir am eigenen Leib etwas von dem Sterben, das Jesus erlitten hat. Denn unser Leib soll auch das Leben zeigen, zu dem Jesus auferstanden ist.“ (1. Kor 4, 7-10). Wie Leonard Cohen es sagt: „There‘s a crack in everything. That‘s how the light gets in.“ (in allem ist ein Sprung. So kommt das Licht hinein.)
Paulus kennt Schwachheit. Er redet von Druck, der auf den Korinthern lastet, von Verfolgung, Ratlosigkeit, die einen Verzweifeln lässt. Das macht mir glaubhafter, dass die Worte von Paulus auch für mich heute gelten. Ich erlebe anderen Druck, andere Ratlosigkeit, aber auch in mir ist Gottes Herrlichkeit verborgen. Das gibt mir Kraft, die sich vielleicht ganz anders anfühlt, als die Kraft, die ich meine zu brauchen. Aber es ist göttliche Herrlichkeit.
Jetzt wird’s praktisch
- Was raubt Dir Energie? Was macht Dich hilflos?
- Trinke einen selbstgemachten Smoothie (natürlich aus regionalen und saisonalen Zutaten)!
- Mach eine Sporteinheit, die Dir Spaß macht und gut tut!
- Bitte eine andere Person um eine Umarmung, wenn Dir alles zu viel wird!
- …
Anna Böck. @pfarrertogo schreibt monatlich über GottMachtPolitik.