Es geht auch ohne

Ein Mann in Jacket und dunkler Jeans steht auf einer Straße. Oberkörper und Füße sind nicht abgebildet. Er hat eine Lederumhängetasche um und ein dickes Buch in der Hand, die nach unten hängt.

Laut Bibel sind wir eine Familie. Gott ist der Vater und die Leute in der Gemeinde sind meine Geschwister. Jedoch muss der Begriff der Gemeindefamilie für diejenigen, die Familie nicht kennen, gut erklärt werden. Die Enttäuschung ist sonst sehr schmerzhaft.

Einer der Gründe, warum ich aus dem Gemeindeleben ausgestiegen bin, war, dass ich den Großteil der Beziehungen nicht als echt empfand. Wir waren Geschwister und ich als Einzelkind hatte wahrscheinlich eine sehr glorifizierende Ansicht, wie Geschwister untereinander sein sollten. Ich dachte, Geschwister lieben sich automatisch, weil sie eben Familie sind.

Außerhalb der Gemeinde habe ich auch Beziehungen unter Geschwistern erlebt, die ziemlich toxisch waren. Da wurden Grausamkeiten und unschöne Geschichten ausgeteilt und nicht geklärt oder Grenzen missachtet. Sachen wurden einfach mit: „meine Schwester oder mein Bruder ist so“ übergangen. Und das Herz wurde wieder frei und voller geschwisterlicher Inbrunst in die Arena geworfen. Und dann passierte genau das gleiche wieder und wieder.

In der Gemeinde, dachte ich, ist das anders. Wir sind alle Geschwister und wir lieben, vergeben und korrigieren uns. Zwischenfälle werden angesprochen, gemeinsame Wege werden gesucht und dann ist Versöhnung da, vor allem weil wir doch den Heiland haben. Wir haben nicht solche Eltern, die die einen Kinder bevorzugen und andere schlecht behandeln. Wir haben den besten Vater der Welt, der alle gleich liebt und gleich behandelt.

Ich hatte nicht verstanden, wie sich die alten Leute in der Gemeinde über Dinge ärgern konnten, die zwanzig Jahre zurücklagen. So wollte ich nicht sein oder werden. Wir Geschwister sind alle sind, wir haben aber Vater, einen Gott und das vereint, uns.

Vergeben ja, vergessen nein

Mit der Zeit lernte ich die Sache mit der Vergebung kennen, und zwar auf Basis von „Vergeben ja, vergessen nein.“

Vergebung heißt: ich fordere nichts von dir. Vergebung heißt nicht, du darfst mich wieder und wieder verletzen. Vergebung meint auch nicht, dass ich stillhalte und mich immer wieder neu verletzten lasse. Vergebung heißt, wir sind eine Familie, … aber von Bruder Schmidt halte ich mich besser fern. Das ist sehr weit weg von Jesu Ideal „und trafen sich täglich hin und her in den Häusern.“

Die Treffen in meiner Gemeinde fanden nicht statt, weil Klaus, Manuela, Schnucki, Biene und Co einfach Bock aufeinander haben. Na ja, das geschah auch. Aber häufiger gab es Treffen, weil etwas zu tun war: Lobpreisprobe, Seelsorgertreffen, Hauskreis oder Gottesdienst. Es war eben nicht Familie, wo man sich trifft zum Essen oder um einen Geburtstag zu feiern, sondern eher ein Arbeitstreffen, wo man zufällig auch isst oder ein Ständchen bringt, wenn Biene Geburtstag hat.

Gemeinde ist eine Ansammlung christlicher Arbeitskreise, deren Ziel ist, die Abläufe zu verbessern oder bessere Menschen/Christen zu werden. Das nennt man dann in der Fachsprache „Christus ähnlicher zu werden“. Es ist also wie eine Firma oder ein Verein: Es geht um den Inhalt. Oft ist es Christus. Manchmal ist es wie Christus zu sein – eben eine bessere Beziehung mit Gott zu haben. „Wo zwei oder drei in seinem Namen zusammen sind, da ist er mitten unter ihnen“, ist hier der passende Bibelvers. Man ist also zusammen, damit er da ist.

Nicht weil wir eine Familie mit ihm sind.

Und da ist noch die Sache mit Liebe und Annahme, „wie Christus uns angenommen hat“. War ich angenommen? Ich gehe davon aus. Ich habe heute noch Freund:innen aus der der Zeit, die mich lieben und annehmen. Ich kenne jedoch auch Leute, die nicht angenommen wurden. Denen das Bedürfnis nach Gemeinschaft, nach Eins-zu-eins-Kontakt mit „Freunden“ abtrainiert wurde mit dem Spruch: „Hierfür ist deine Partnerperson zuständig“. Fässer ohne Boden. Da waren die lieben Geschwister überfordert und in die Ecke gedrängt, vielleicht war es ein Gefühl der Bedrohung, weshalb die Bittsteller so schnell abgekanzelt wurden.

Viele Menschen kommen in Gemeinden, weil sie Gott suchen, und angeblich bleiben sie wegen der Beziehungen. „Liebe Gott den Vater und deinen Nächsten wie dich selbst.“ Vielleicht stimmt dann der Umkehrschluss, wenn sie sich nicht selbst lieben, können sie ihre Nächsten nicht lieben und eben auch Gott nicht, da er uns am nächsten ist. Was auch immer.

Im Gegensatz zu den leiblichen Geschwisterverhältnissen scheint die Trennung oder Distanzierung von schwierigen Gemeindemitgliedern gesünder zu sein. Aber gibt es denn keinen verbindenden Weg mit Gottes Hilfe, Jesu Liebe und einem Geist der Liebe, Kraft und der Besonnenheit?

Ich empfinde die Systeme, die sich Gemeinde nennen, als so unattraktiv, dass ich mich davon fernhalte. Einzelne „Geschwister“ mag ich und mit denen bin ich befreundet. Die dürfen an mein Herz und in mein Leben reden. Die dürfen mich überraschen und auch enttäuschen. Die anderen, mit denen ich dem Namen nach (Christ) verwandt bin, sehe ich nicht mehr oft.

Genug genölt und gemotzt. Wie sieht die Alternative für mich aus? Nach einigen Jahren der erst nicht beabsichtigten und dann ganz absichtlichen Abstinenz von Bibel und Predigten, fange ich gerade wieder an die Bibel zu lesen. Und ja, ich kann sagen, dass ich manches neu entdecke. Ob es Charakterzüge Gottes sind die ich neu oder erstmals entdecke, weiß ich noch nicht. Wir reden darüber – ER und ich. Ich rede wieder mehr mit ihm und warte auf Antworten. Manchmal kommt was.

Vielleicht gehe ich eines Tages wieder in einen Gottesdienst. Vielleicht ist es bald. Wir bleiben im Gespräch.

Tanja lebt in Stuttgart und liebt den Heiland.

2 thoughts on “Es geht auch ohne

  1. Danke für deine Offenheit,Tanja!
    Vielen, die mit Gemeindeleben aufgewachsen sind, ist das alles wahrscheinlich kaum bewusst.
    Ich habe mir schon lange eine (kleinere) Gemeinde gewünscht, in der die Menschen einander mehr im Blick haben, sich dafür interessieren, was den anderen beschäftigt, einander nah sind und helfen. Und besonders auch, dass es kein Treffen gibt, in dem jemand Außenseiter und einsam bleibt.
    Die Menschen sind wichtiger als Gemeindestrukturen, organisieren, vorbereiten und Perfektion!!!
    Im Grunde kann sich eine Gemeinde treffen wie eine Familie, ohne viel Vorbereitung und Stress. Wenn wir einander lieben und vertrauen, brauchen wir keine Angst vor Fehlern zu haben und können spontan miteinander singen, beten, berichten, was wir mit Gott erlebt haben.
    Wir können offen über Glaubensfragen sprechen. Und über persönliche Nöte ggf. im kleineren Kreis. Wir können einander auch ganz praktisch helfen. Und miteinander überlegen, wie wir auch anderen Menschen in Not helfen können,…
    Wie in einer Familie wird man sich manchmal gegenseitig missverstehen, übersehen oder verletzen. Mit Jesus und in Liebe und Wertschätzung kann man immer wieder zusammenfinden.
    Das ist mein Traum von Gemeinde.

  2. Besonders in unserer Zeit ohne klassische Gemeinde habe ich bemerkt, dass Gemeinde mehr ist. Mein Mann, Freundinnen, Bekannte, Familie, Verwandtschaft, die Korrekte Bande, Worthaus, Garris Elkins — Das ist für mich Gemeinde, auch wenn wir zum Großteil nur übers Internet oder Telefon Kontakt haben. Wir können füreinander beten, einander zuhören, vielleicht weiterhelfen, Glaubenserfahrungen und Erkenntnisse teilen, einander ermutigen und trösten,… Wenige davon kann ich besuchen,… Das alles empfinde ich als sehr wichtig und oft beglückend.
    Seit kurzem sind wir wieder in einer kleinen Gemeinde, das ist natürlich auch sehr schön und wertvoll.

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