GottMachtPolitik – Darf Glaube Politik?

Ein ganz normaler Sonntag?

Es ist der 27.9.2021. Bundestagswahl. Ich liebe diese Sonntage! Oft begegne ich Menschen, mit denen ich gerade noch im Gottesdienst war, dann auch im Wahllokal. Wir freuen uns. Wir feiern die Demokratie. Es ist ein Vorrecht, wählen zu dürfen. An diesem 27.9. bin ich unterwegs zum Wahllokal. Die Sonne scheint. Ich laufe über den Marktplatz. Auf der Bank beim Dönerladen sitzt eine Frau und isst. Fröhlich rufe ich ihr „Guten Appetit!“ zu. Als Antwort bekomme ich eine sehr verbissenes: „Dass sie als Pfarrerin überhaupt wählen gehen dürfen! Sollten Sie nicht neutral sein?“

Die Absurdität dieser Aussage werde ich nicht auseinander nehmen. Zur ganzen Geschichte gehört auch die Information, dass ich mich im Wahlkampf deutlich geäußert hatte, wen man meiner Meinung nach nicht wählen sollte. Also keine Wahlempfehlung, aber eine Antiwahlempfehlung. Erwähnen kann ich auch, dass ich mich nicht nur gegen die AfD ausgesprochen habe. Das hatte zu einer kleinen Kampagne gegen mich und meine Unterstützung für „Fridays For Future“ geführt. In dieser Kampagne wurde völlig wirre Anschuldigungen gegen mich erhoben, die es nicht wert sind, wiederholt zu werden.

Politischer Glaube hat Gründe

Aber ist nicht ein Funken Wahrheit in dem allen? Sollte Glaube nicht politisch neutral sein bzw. im besten Fall gar nicht politisch? Wie weit darf Politik in der Kirche gehen? Diese Frage stellt sich nicht nur, wenn ein:e Pfarrer:in sich politisch äußert. Sie ist auch immer dann im Raum, wenn eine Synode (ein Kirchenparlament) sich zu Themen der Gesellschaft äußert.

Meine Antwort lautet logischerweise: Keinesfalls sollten Glaube und Politik voneinander getrennt sein! Dafür habe ich auch Gründe.
Der erste ist, dass ich Glaube sehr ganzheitlich verstehe. Glaube ist nicht nur mein geistliches Leben, der Sonntag oder das Treffen mit anderen Christen. Glaube ist die Überzeugung, dass mein Leben und die ganze Welt aus der Hand Gottes kommen. Deswegen hat mein Glaube auch bei allen Dingen mitzureden, die mein Leben betreffen. Und die Gesellschaft um mich herum geht mich ganz direkt an.

Daraus folgt der zweite Grund: Wie wir miteinander leben, also Politik, ist ein Thema der Bibel. Es gibt gute Gedanken zu Fremden, zu Armen, zu Einsamen in der Bibel und auch dazu, welche Rolle der Mensch allgemein in dieser Welt einnimmt.

Gott selbst ist politisch. Der Prophet Amos schreibt in Gottes Namen über die Gottesdienste im Volk Israel: „Lasst mich in Ruhe mit dem Lärm eurer Lieder! Auch euer Harfenspiel mag ich nicht hören! Vielmehr soll das Recht wie Wasser strömen und Gerechtigkeit wie ein Bach, der nie versiegt.“ (Amos 5,23.24). Gott will also gar keine frommen Glaubensäußerungen, wie gesungene Gebete oder Gottesdienste, solange nicht auch die öffentliche Seite einer Gesellschaft geklärt ist. Erst die Gerechtigkeit, dann der Glaube. Auch Jesus war hochpolitisch. Besonders schön hat das Shane Claiborne in seinen Buch „Jesus for President“ aufgezeigt. Jesus hat sich den Mächtigen seiner Zeit in den Weg gestellt. Er hat nicht nur Ungerechtigkeit beim Namen genannt, er hat sie in seinem Tun und Handeln beseitigt. Er hat sich Frauen zugewandt und mit den Verstoßenen am Tisch gesessen. Er hat Unberührbare berührt und mit reichen, selbstgerechten Menschen Leben geteilt. Man kann sogar sagen, dass Jesus sterben musste, weil er für seine Zeit zu politisch wurde.

Zuletzt kann ich meinen Glauben gar nicht leben, ohne daraus immer wieder Konsequenzen zu ziehen, die mich aktivieren. Wenn ich über Gottes Sicht auf diese Welt nachdenke und in der Bibel von seiner Sehnsucht nach Gerechtigkeit lese, wie könnte ich da nicht diese Sehnsucht zu meiner eigenen machen und in aller Unperfektion da anpacken, wo ich mit meinen Fähigkeiten gerade gebraucht werde?

unsere kleine heile Kirchenbubble

Umso mehr wundere ich mich manchmal, wenn ich in Gemeinden oder christlichen Settings unterwegs bin. Man hat dort das Gefühl, in eine andere Welt einzutauchen, in der es keinen Klimawandel, keinen Rassismus und keinen Sexismus gibt. Das fühlt sich wie ein Theaterstück an, das gespielt wird. Eine Utopie. Dabei sind die Unterscheide zwischen verschiedenen Frömmigkeiten nur marginal. Abgesehen davon, dass auch Gemeinden von Klimawandel, Rassismus und Sexismus – und anderen Themen – betroffen sind, verschulden sie sich auch regelmäßig in diesen und vielen weiteren Bereichen. Selten fühle ich so sehr das Phänomen einer Echokammer, in der keinerlei Austausch mit der Welt drum herum geschieht. Wie Betonwände schirmen sich Gemeinden gegen die Welt da draußen ab. Gott sei Dank gibt es aber auch viele positiven Gegenbeispiele.

Politisch wird man übrigens nicht erst mit Eintritt in eine Partei. Auch ohne Parteizugehörigkeit engagieren sich viele Menschen politisch in losen Netzwerken, thematischen Organisationen wie NGOs (Nichtregierungsorganisationen) oder einfach in der Nachbarschaft und im Freundeskreis.

Doch ich kenne auch eine Sorge, die ich selbst manchem „politischen Christen“ gegenüber gehegt habe: Manchmal ist man sich nicht so wirklich sicher, worum es gerade geht. Frommdeutsch gesagt: Wer ist hier eigentlich Gott? Das Engagement? Das politische Thema? Oder die Quelle, aus der sich meine Sehnsucht nach einer besseren Welt speist? Inzwischen weiß ich, dass das gar nicht so leicht zu trennen ist und baue immer mehr meine Vorurteile gegenüber Mitstreiter:innen ab.

Das große Schweigen brechen

Je politischer ich werde, desto mehr interessanten Menschen begegne ich. Menschen, die mit Kirche schlechte Erfahrungen gemacht haben und völlig irritiert sind, auf einmal mit einer Kirchenfrau zu tun zu haben. Menschen, die stutzig werden, wenn sie merken, dass für mich Glaube mehr ist als Gutmenschentum, und Menschen, die freudig sich selbst auch als Christen bezeichnen, aber wenn es darum geht, was das bedeutet, ganz schnell unsicher und stumm werden.

Diese Stummheit bewegt mich sehr. Ich ahne, wo sie herkommt. Vielleicht wurde diesen engagierten Menschen einmal der rechte Glaube abgesprochen, weil sie nicht die üblichen Worte benutzt haben, um das zu beschreiben, was sie bewegt. Vielleicht haben sie einfach nie gelernt, ihre Antriebsquelle zu beschreiben, weil sie so beschäftigt waren, ihr Thema voran zu bringen. Da sie aber eigentlich geniale Menschen sind, die viel in ihrem Themengebiet zu sagen haben und sicher auch viel zu ihrem Glauben zu sagen hätten, möchte ich mit dieser Kolumne ein Gespräch beginnen.

Ich möchte versuchen, Worte zu finden für einen Glauben, der diese Welt anschaut und Gottes Vorstellung von Gerechtigkeit daneben hält. Einen Glauben, der nicht schweigen kann, weil er sich an Gottes Sehnsucht für eine gute Welt anhängt und für den Gottes Reich nicht ein Ort ist, wo wir dermaleinst hindürfen, sondern schon heute und hier lebendig wird, wo wir Leid und Freud miteinander teilen.

Ich gehe klassische Glaubensthemen ab, die mich in meinem politischen Engagement begleiten. Ich versuche tiefe, alte, christliche Einsichten für die Fragen unserer Zeit fruchtbar zu machen. Dabei werde ich manchmal klar Stellung beziehen. Ich werde sagen, was und wie ich glaube. Das heißt nicht, dass Du genauso glauben musst. Aber ich würde mich freuen, wenn Du Dich mit mir der Frage stellst, was Gott in dieser Welt noch zu sagen hat. Ich hoffe, Du begleitest mich ein Stück auf diesem Weg. Schreibe mir gerne Deine Gedanken, Themenvorschläge oder Fragen! Auf einigen SocialMediaPlattformen findest Du mich unter @pfarrertogo.

Wer ich bin

Ich bin Pfarrerin, die nach acht Jahren im Gemeindedienst in einen Verlag gewechselt ist. An meiner letzten Stelle hatte ich als Jugendpfarrerin das Vorrecht, junge Menschen bei Fridays For Future zu begleiten und viel von ihnen zu lernen. Durch FFF habe ich das kommunalpolitische Parkett kennengelernt und bin engagierten Politikern begegnet. Ich habe die Stimme erhoben gegen diejenigen, die zu Lasten von Geflohenen Hass und Zwietracht säen. Ich bin in meinem Engagement Menschen begegnet, die ich nicht mehr missen möchte. Ich bin bei Bündnis90/die Grünen Mitglied geworden und seit ich im Verlag arbeite auch Mitglied bei Verdi. Denn wir Christen schaffen das mit der Gerechtigkeit nicht alleine.

► ► ► Disclaimer: Ich habe niemals mein Mandat als Pfarrerin ausgenutzt, um Menschen vorzuschreiben, was sie zu wählen haben. Ich benenne aber deutlich, wenn eine Person oder Personengruppe für Inhalte einsteht, die gegen andere aufhetzen. ◄

Was kannst Du praktisch tun:

► Lies Shane Claibornes „Jesus for president“
► Frage Dich, wo du Betonwände gegen Themen der Welt in deiner Gemeinde erlebst.
► Wo kannst Du Kirche oder deine Gemeinde unterstützen, politischer zu werden?
► Welches Thema lässt dein Herz höher schlagen, bzw. worüber wirst du richtig wütend? Warum engagierst du dich in diesem Bereich nicht? Was hindert dich?

Anna Böck. @pfarrertogo

2 thoughts on “GottMachtPolitik – Darf Glaube Politik?

  1. Dankeschön.
    Ich fühle mich bei deinen Gedanken gut aufgehoben und sie spiegeln auch meine Identität wider. Schon zu DDR-ZEITEN waren wir nicht unpolitisch. Wir sind immer zur Wahl, auch wenn es keine Wahl wirklich gab, so konnten wir aber mit dem Ungültigmachen des Stimmzettels unseren Protest ausdrücken. Nach der Wende habe ich mich auch an jeder Wahl beteiligt. Eine Paetei mit dem großen C drin, habe ich nie gewählt, weil mir das C in ihrer Politik fehlt. Aber natürlich sehe ich mich auch nicht als unpolitisch, kann ich gar nicht. Auch wenn mir das missionieren fern liegt, so hoffe ich, dadurch, wie ich lebe, auch irgendwie Werte meines Glaubens zu vermitteln.
    Danke Anna für dein Engagement!
    Liebste Grüße von
    Eva-Maria

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