19. Dezember – Familienbande oder darf ich im heiligen Land schlafen?

Eine Frau mit Maske hebt ihren Kopf nach oben. Ihre Augen sind geschlossen. Ihr Gesicht wird von oben beleuchtet. Der Hintergrund ist schwarz.

Musik von Sting zum Abspielen zwischen den Tagen oder währenddessen: https://www.youtube.com/watch?v=ZDtjDThed7o

Sonntag, 2. Advent

Heute hat mein Vater Geburtstag. Es ist ein Familienkaffeetrinken geplant. Meine jüngere Schwester und ihre Tochter kommen zu Besuch aus Leipzig. Wir freuen uns auf die beiden, sehen wir sie doch viel zu selten. Als sie ankommen, stellen wir fest, dass die Kleine Fieber hat, 39,2°C. In meinem Kopf blinkt sofort die Coronawarnlampe. So ein Blödsinn, bei Fieber ausschließlich an Corona zu denken.

Die Geburtstags-Stimmung ist verschwunden und zwar gründlich. Unser Sohn hat keine Lust auf seine Schulsachen und ihm ist schrecklich langweilig. Rausgehen hilft nur wenig. Wir streiten. Das ist unser Wochenende-Familien-Dilemma! Jeder wünscht sich etwas anderes, um zu entspannen. Der Wunsch nach Ruhe und Zeit kollidiert heftig mit einem großen Bedürfnis nach Action, Abwechslung, Handy zocken und Freunde treffen. Dazwischen noch so Dinge wie Einkaufen, Putzen und eben Schulsachen. Jetzt das fiebernde Kleinkind. Meine Schwester fährt wieder nach Hause, sie sieht total fertig aus und ihre Hoffnung auf eine normale Woche fliegt davon. Mir bleibt ihr müdes Gesicht in der Seele kleben.

Das Familienkaffeetrinken gleicht eher einer seichten Beerdigungsrunde. Es herrscht Anspannung, weil der Hund draußen ununterbrochen bellt, Sohn ist genervt von den Erwachsenengesprächen und ich etwas enttäuscht, weil mir der Kuchen, den ich meinem Vater geschenkt habe, nicht schmeckt. Alle sagen, der Kuchen ist gut und ich habe eine Macke. Kann sein, ändert aber nichts. Ach ja, mein Wohnungsschlüssel ist seit einer Woche verschwunden, blöde Sache. Am Abend kurz vorm ins Bett fallen noch der Gedanke, morgen ist Nikolaus, diesmal hätte ich das fast vergessen …

Montag, 6. Dezember

Nikolaus ist geschafft, die Kinder sind glücklich. Ich habe ein Tagebuch bekommen und nehme mir kaum die Zeit, das schöne Buch anzusehen. Später in der Schule im Büro merke ich, wie k.o. ich vom Wochenende bin. Der Arbeitstag wird glücklicherweise anders als gedacht und ich habe Freiräume und kann in Ruhe arbeiten.

Interessant dabei ist, dass mein Kopf Mühe hat, dieses Freiraum-Geschenk anzunehmen, er rattert, will die Zeit effektiver nutzen. Doch mein Herz freut sich über die Ruhe. In der Herrnhuter Losung heute steht: „Tritt nicht herzu, zieh deine Schuhe von deinen Füßen, denn der Ort, darauf du stehst, ist heiliges Land.“ Die Orte, an denen sich mein Leben zur Zeit abspielt, fühlen sich anders an als heiliges Land, mir kommt die Frage in den Kopf, „darf ich im heiligen Land schlafen?“

Abends meldet sich eine Freundin, der es nicht gut geht. Ich nehme mir Zeit für sie und jongliere zwischen zuhören, Nachrichten schreiben, kochen, mit den Kindern reden, das ist der Alltag, Frage: Heiliges Land?

Ich merke, dass ich wieder deutlich schlechter schlafe und nehme mir vor, auf mich zu achten.

Dienstag, 7. Dezember

Mein freier Tag – ein Lichtblick, das fühlt sich viel mehr nach heiligem Land an als der Montag gestern. Ich laufe relativ früh und vor allem allein, also wirklich nur ich (herrlich!) eine große Runde durch die Natur. Ich muss nicht reden. Es ist still, arschkalt und wunderschön.

Später Haushalt, die to do Liste zu lang und ich merke, es fällt mir verdammt schwer, Pausen zu machen. Mittags bin ich zufällig in der Wohnung meiner Eltern, als deren Telefon klingelt und ich die Telefonnummer meines Sohnes auf dem Display erkenne. Sohn ruft immer Oma an, wenn Mama arbeitet und es irgendwie brennt.

Der freie Tag fliegt davon als ich höre, wie gestresst er klingt und mich bittet, ihn von der Schule abzuholen. Ich fahre los und sehe ihn schon von weitem, ohne Mütze im nasskalten Wetter direkt an der Straße stehen. Im Auto erzählt er vom Streit mit seinem besten Freund. Zuhause geht es weiter, sein Ärger bleibt noch eine Weile in der Luft, die Stimmung ist angespannt, denn jetzt richtet sich sein Frust gegen die Mama. Frust ist Frust!

In der Herrnhuter Losung stand heute, dass der Herr die Erde durch seine Kraft gemacht hat. Heute morgen in der Natur hab ich mich über den Spruch gefreut und ihn sofort uneingeschränkt geglaubt. Jetzt im Stress mit meinem Sohn denke ich, Gott, wo ist denn deine Kraft, wenn ich sie brauche?

Abends nehme ich eine Schlaftablette, ich kann oder anders ich will mir nicht leisten, jetzt wieder auszufallen.

Mittwoch, 8. Dezember

Erster langer Arbeitstag diese Woche. Die Losung finde ich gruselig und habe keinen Bock auf den Tag. Bloß gut, dass ich heute von der Hausaufgaben Betreuungsrolle für den Sohn befreit bin. In der Mittagspause gehe ich einkaufen in den Netto, hinter mir in der Schlange an der Kasse stehen meine Schüler. Super, nicht mal in der Pause habe ich meine Ruhe! Ich will sie vorlassen, da sie mit ihren Chips und Schokolade deutlich weniger einkaufen als ich. Einer der Jungs sagt: „Sie haben doch nicht viel, Sie können ruhig vor uns bezahlen.“ Juhu.

Auf dem Rückweg macht der VW Bus meines Mannes plötzlich ein Geräusch, die Öllampe blinkt. Ich stelle das Auto irgendwo ab und rufe Robert an. Er war schon zu Hause und fährt extra nochmal los. Wir tauschen die Autos, Robert fährt in die Werkstatt. Es ist ärgerlich, denn eine Reparatur an dieser Stelle hatten wir dieses Jahr bereits und die war teuer.

Zuhause geht es ohne Pause weiter. Unser Sohn versorgt zur Zeit eine Mitschülerin, die in Quarantäne ist, mit Aufgabenzetteln. Deren Mutter hat sich für heute Abend angekündigt und will die Zettel abholen. Wir telefonieren. Letzte Woche stand sie mit all ihren an Corona erkrankten Kindern am Gartenzaun. Willkommen im Erzgebirge!

Heute frage ich vorher und möchte, dass es anders läuft, sie sagt, ihr Test sei wieder negativ und wir reden 20 Minuten, draußen. Im Laufe des Gesprächs kommen wir auf Rumänien, dorthin reist sie öfter. Sie will mir Adressen von sozialen Projekten schicken. Unsere Tochter interessiert sich für ein FSJ in Rumänien.

Verrückt. Weil der Kleine sich erbarmt hat und der Mitschülerin die Arbeitsblätter mitbringt, erhalten wir ausgerechnet von dieser Familie Adressen für die Große in einer wilden Coronasituation. Darüber muss ich nachdenken. Gott ist schon sehr anders.

Später gehe ich spazieren, um den Tag zu verdauen. Auf dem Weg treffe ich meine Freundin. Sie motzt knapp 20 Minuten durchgehend über die aktuelle Situation mit ihren vier Kindern, die keine Lust auf Schule haben. Einer der Jungs hat im Bus „Du dumme Sau“ zu einem anderen Kind gesagt. Na dann, fröhliche Weihnachten.

Donnerstag, 9. Dezember

Nach gefühlten vier Stunden Schlaf beginnt mein zweiter langer Arbeitstag diese Woche. In der Losung steht: „Der Tag des Herrn ist groß und voller Schrecken, wer kann ihn ertragen? Doch auch jetzt noch, spricht der Herr, kehrt um zu mir von ganzem Herzen!“ Puh, das steht meinem Bedürfnis nach himmlischer Unterstützung diametral entgegen.

Ich nehme meinen Räuchermann plus Räucherkerzen mit in die Schule. Donnerstagmorgens sitze ich jede Woche mit meinen beiden Lieblingslehrern kurz zusammen. Als ich die Räucherkerze anbrenne, Marke Russian Red, werde ich fast geköpft. „Mach das aus Conny, mach das bloß aus, igitt, wie riecht denn das, das kannst du doch net machen!“

Mein erzgebirgischer Kollege geht zum Schrank und holt mir aus seinem Fach eine Packung „richtiges Räucherwerk“. Ich werde nachdenklich, klar war seine Reaktion eher witzig gemeint, dennoch steckte ein Funken Ernst in dieser Abwehr. Ich frage mich, wo halte ich stur an Traditionen fest und lasse nichts Neues zu?

Zuhause hat unser Sohn wieder nur eine 3 in einer LK, unsere Mühen, ihm zum Lernen zu bewegen bzw. ihm zu helfen, prallen an ihm ab. Er ist ziemlich intelligent und zugleich hat er keinen Bock. Meine ältere Schwester sagt: „Cool, freu dich doch, dass es keine 4 ist.“ Klappt hervorragend, kann ich ihr ja das nächste Mal wenn ihr Hund 5 Minuten still ist, sagen, freu dich doch, er kläfft nicht den ganzen Tag …

Freitag, 10. Dezember

Freier Tag bis zum Mittag, später Physiotherapie in Chemnitz mit dem Sohn. Frage mich gerade, warum ich mit der Physio nicht bis zum Frühling gewartet habe. Stelle fest, dass meine Tochter zwei Stunden später Schule hat und ich NICHT alleine zuhause bin. Bin schlagartig wütend. Die Große hat eine eigene Vorstellung von pünktlich aufstehen und rechtzeitig zum Bus gehen. Ich halte es in unserer Wohnung nicht aus und fliehe ins Erdgeschoss, meine Eltern sind einkaufen, so habe ich in ihrer Wohnung meine Ruhe. In der Zeitung gefühlt nur Elend, keine guten Nachrichten.

Die Tochter geht im Schneckentempo zum Bus. Endlich frei, herrliche Sonne draußen und drinnen in meinem Herzen ein Wirbelsturm. Alle Emotionen, die ich diese Woche in der Alltagshektik weggedrückt habe, melden sich geballt zu Wort. Ärger, Wut, Frust, Leere, Enttäuschung – es ist ein großes Chaos. Und auch, wenn ich weiß, dass meine Seele heute, wo ich frei habe, einfach nur aufräumen will, macht es das nicht besser.

Ich backe Lebkuchen, das hilft irgendwie. Später in Chemnitz. Es ist eng, voll, dicht. Ich parke, lese gleichzeitig das Schild „Mitarbeiter-Parkplatz“. Also nochmal umparken mit einem dauerredenden Sohn auf dem Beifahrersitz. Das ist Fahrschule für Fortgeschrittene. Mein Sohn sagt, „Mama, dort drüben das ist doch die aus der Gemeinde!“ Er hat recht, eine Freundin aus der Gemeinde steht auf dem Parkplatz und telefoniert. Wir nicken uns kurz zu. Über den Kassberg zu laufen tut mir gut und ich merke, die Physiotherapie war doch die richtige Entscheidung.

Am Abend gucken wir einen Weihnachtsfilm, die Große, der Kleine und ich. Es ist ein Moment des Friedens. Der Kamin brennt, wir haben Kerzen an. Das machen wir dieses Jahr im Advent oft.

Samstag, 11. Dezember

Der Mann hat Winterdienst in Chemnitz. Danach ein Versuch, „gemütliches Frühstück“. Allerdings ist der Kleine gelangweilt, gemütlich wechselt zu „geht so“ und wir fahren einkaufen.

Anfangs alles super. Später im Spieleladen eskaliert die Lage ein wenig. Mein Sohn will so gern einen Lego Nussknacker für seinen Onkel kaufen. Leider gibt es den Nussknacker in dem Laden nicht. Vor lauter Frust möchte er sich sofort ein anderes Legoset kaufen, ich bin dagegen.

Mein Sohn ist enttäuscht und mega sauer. Er wirft sein Geld ins Regal, motzt und tobt wie ein Kleinkind in der Trotzphase. Ich bin völlig überfordert. Mit Logik geht hier gar nichts. Die Situation endet damit, dass ich aus dem Laden gehe und er hinter mir herstürmt und tobt, über den belebten Parkplatz schimpft, wütet, gefühlt sehen uns alle Menschen vorwurfsvoll an. Ich laufe neben ihm, bin verstummt, es ist schrecklich.

Kurze Zeit später will er sich entschuldigen. Es gelingt mir nicht, zuzustimmen. Mein Herz ist voll von der Woche, ich bin zu, dicht, unfähig mit meinem Sohn zu reden. Zuhause hilft mein Mann ihm bei den Schulsachen, es geht wunderbar, viel besser als sonst.

Bei mir im Bauch, das dumpfe Gefühl, den Gemeinde-Input für Sonntag zugesagt zu haben. Ich fühle mich total unfähig, was soll ich denn morgen sagen? Jesus macht alles gut? Nach dieser Woche? Das wäre unglaubwürdig oder anders, es wären nur schöne Worte. In meinem Herzen höre ich eine leise, freundliche Stimme: „So was gibt es in einer Familie, streiten darf sein, es ist in Ordnung.“ Das berührt mich und dennoch bin ich geschafft und müde.

Nachmittags geht der Kleine zu seinem Freund, mein Mann ist in der Werkstatt, ich habe Zeit für mich. Später sitzen wir mit unserer Großen beim Kaffeetrinken, sie spielt feine Musik von ihrem Handy ab, die Kerzen brennen, ausatmen.

Am Abend fahre ich sie zu ihrer jungen Gemeinde. Wieder zuhause beim Einparken in den Carport verschätze ich mich, es knirscht unangenehm. Ich bin mit dem Scheinwerfer gegen den Torpfosten geknallt, der Scheinwerfer und die Glühbirne des linken Blinkers ist kaputt. Zum Glück ist es derjenige, der schon etwas defekt war. Dennoch ärgerlich.

Die Losung von Samstag war: Wo sind die Klugen? Wo sind die Schriftgelehrten? Wo sind die Weisen dieser Welt? Hat nicht Gott die Weisheit der Welt zur Torheit gemacht?

Connys Familienbande – das Zuhause von Mann Robert, Tochter (die Große), Sohn (der Kleine) und Conny, inzwischen alles Dorfkinder, vier starke Charaktere, eine Wohnung.

2 thoughts on “19. Dezember – Familienbande oder darf ich im heiligen Land schlafen?

  1. Danke Conny für deinen Familienbericht. Es tut gut zu lesen, dass auch andere mit ihrem Alltag kämpfen aber trotzdem nicht aufgeben und mit Gott da durch gehen.

  2. ach, eine Connygeschichte. Wie schön.
    Letztes Jahr, als sie frisch war, hatte ich sie gar nicht bemerkt.
    Weißt du, ich hab mich sehr danach gesehnt, was von dir zu lesen.
    Man ist immer so nah dabei, hört deine Stimme und fühlt sich umarmt.
    Schreib doch bitte bald wieder was.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert